DOSB News

Verdrängt – Verfolgt – Vergessen

DOSB-Autor Prof. Lorenz Peiffer stellt eine Posterausstellung in Berlin vor, die in beeindruckender Weise die Lebenswege jüdischer Sportlerinnen und Sportler aus der deutschen Hauptstadt zeigt.

Autor: DOSB
7 Minuten Lesezeit veröffentlicht am 29. April 2016

DOSB-Autor Prof. Lorenz Peiffer stellt eine Posterausstellung in Berlin vor, die in beeindruckender Weise die Lebenswege jüdischer Sportlerinnen und Sportler aus der deutschen Hauptstadt zeigt.

Etwas versteckt in den Hackeschen Höfen in Berlin (Rosenthaler Str. 39) präsentiert das Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt in der Stiftung Gedenkstätte Deutscher Widerstand die Ausstellung “Verdrängt – Verfolgt – Vergessen. Berliner Juden im Sport vor und nach 1933”.

Initiatorin dieser Ausstellung ist Inge Deutschkron, die in ihrer Jugend im Schatten der nationalsozialistischen Verfolgung und Diskriminierung die sozialisierende Kraft des Sports und seine Bedeutung für die Stärkung des jüdischen Selbstbewusstsein selbst erlebt hat.

Verfolgung und Flucht: wie Olympiasieger, Athleten und Sportärzte die NS-Zeit erlebten

Die bekanntesten Berliner jüdischen Sportler sind sicherlich die Cousins Alfred und Gustav Felix Flatow, die bei den ersten Olympischen Spielen 1896 in Athen für ihr deutsches Vaterland die ersten olympischen Medaillen gewannen. Am 18. Oktober 1933 wurde Alfred Flatow vom Vorsitzenden der Berliner Turnerschaft, Rupert Naumann, aufgefordert, „freiwillig“ aus dem Verein auszutreten. Enttäuscht und verbittert zog er sich zurück.

Gustav Felix Flatow floh 1933 vor dem nationalsozialistischen Terror in die Niederlande, wurde dort jedoch 1943 verhaftet. Beide fielen der nationalsozialistischen Rassenpolitik zum Opfer. Alfred und Gustav Felix Flatow wurden im KZ Theresienstadt ermordet.

Inge Mello und Lilli Henoch waren zwei Weltklasseleichtathletinnen, deren Lebenswege sehr unterschiedlich verliefen. Lilli Henoch war ab 1919 Mitglied des Berliner Sport-Clubs. In den Jahren 1922 bis 1926 wurde sie in den Disziplinen Kugelstoßen, Diskuswurf und Weitsprung sowie mit der 4x100-Meter-Staffel zehnmalige Deutsche Meisterin. In dieser Zeit stellte sie zudem vier Weltrekorde auf. Nach dem Ausschluss aus dem BSC schloss sie sich dem Jüdischen Turn- und Sportclub 1905 an und führte die Handballmannschaft des Vereins zu deutsch-jüdischen Meisterschaften. Am 5. September wurde sie auf dem Transport in das Ghetto Riga ermordet.

Inge Mello war 20 Jahre jünger als Lilli Henoch. Ihr gelang 1938 die Flucht aus Nazi-Deutschland nach Argentinien, wo sie ihre sportliche Karriere fortsetzen konnten. 1936 – mit 17 Jahren – hatte sie bereits auf Platz 6 der Weltrangliste im Kugelstoßen gestanden. 1941 wurde Inge Mello erstmalig südamerikanische Meisterin im Kugelstoßen. Insgesamt wurde sie 22 Mal argentinische, 7 Mal südamerikanische und 2 Mal panamerikanische Meisterin. Mit 44 Jahren beendete sie ihre Karriere. Inge Mello starb am 25. Oktober 2009. Die aus Deutschland vertriebene Weltklasseathletin war bis vor wenigen Jahren in der deutschen Sportszene völlig unbekannt.

Leichtathleten der nationalen Spitzenklasse waren die Sprinter Felix Simmenauer und Justus Meyerhoff. Als überzeugter Zionist hatte sich Felix Simmenauer früh Bar Kochba Berlin angeschlossen, dem 1898 gegründeten ersten jüdischen Sportverein Deutschlands. Unmittelbar nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten emigrierte er nach Palästina, kehrte aber bereits ein Jahr später nach Berlin zurück, um dort als Architekt zu arbeiten. 1937 floh er in die USA. Mitte der 1970er Jahre zog es ihn aber erneut in seine Heimatstadt zurück, wo er am 8. September 1990 im Alter von 87 Jahren starb.

Justus Meyerhoff war – wie Lilli Henoch – Mitglied im Berliner Sport-Club und errang bereits vor 1914 mit der Sprintstaffel zweimal die deutsche Meisterschaft. Der Sohn einer erfolgreichen Unternehmerfamilie ist Gründungsmitglied des internationalen Leichtathletikverbandes (IAAF) und war seinerzeit in der Berliner Gesellschaft ein gern gesehener und angesehener Gast.

Im Vorfeld der Olympischen Spiele 1936 war er einer der Gesprächspartner des amerikanischen Sportfunktionärs Avery Brundage. Im Auftrag des amerikanischen Olympischen Komitees sollte sich der deutschfreundliche und antisemitisch eingestellte Brundage in Deutschland ein Bild von der Situation der Juden und vor allem der jüdischen Sportler in Deutschland machen. Obwohl Brundage die Diskriminierung der Juden in Deutschland erkannte, setzte er sich für die Teilnahme der amerikanischen Mannschaft an den Berliner Spielen ein. Nach seiner Aussage konnten auch in seinem Chicagoer Sportverein, Neger und Juden keine Mitglieder sein. Damit war der angedrohte Boykott wegen der rassistischen Politik der NS-Regierung gegenstandslos geworden. Avery Brundage wurde später Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (1952 bis 1972). Justus Meyerhoff floh im Januar 1939 nach London, nachdem seine Firma arisiert worden war. Vereinsamt wählte er 1944 in seinem Londoner Exil den Freitod.

Der rapide Anstieg der Zahl der Selbsttötungen von Juden nach dem 30. Januar 1933 in Deutschland zeigt nachdrücklich, welchen Repressalien und Verfolgungen Juden in Deutschland durch die neue NS-Regierung ausgesetzt waren. In der Nacht vom 7. auf den 8. Mai 1933 nahm sich Nelly Neppach, die in den 1920er Jahren eine der erfolgreichsten deutschen Tennisspielerinnen war, mit Veronal und Gas das Leben, nachdem ihr Verein, Tennis Borussia Berlin, sie im April 1933 ausgeschlossen und auch der Deutsche Tennisbund am 24. April 1933 seinen jüdischen Spielern und Spielerinnen ab „sofort“ die Teilnahme an repräsentativen Verbandsspielen verboten hatte. Unter diesen Umständen war eine Fortsetzung ihrer sportlichen Karriere nicht mehr möglich. Während ausländische Zeitungen in Nachrufen der bekannten und beliebten jüdischen Tennisspielerin gedachten, meldete die deutschen Verbandszeitschrift ‚Tennis und Golf’ versteckt in einem Bericht über Verbandsspiele lapidar, dass Nelly Neppachs Leben ein „schnelles Ende“ genommen habe.

Simon Leiserowitsch war der erste Star des Berliner Fußballs. Seine Fußballkarriere begann in seiner Heimatstadt beim SC Dresdensia 1898 Dresden. Nach einem kurzen Zwischenspiel beim FC Hertha 1892 Berlin wechselte er 1913 zu Tennis Borussia Berlin, wo er seine größten Erfolge feierte. Seine Fans riefen ihn nur „Sim Leiser“. Über 30 Mal wurde er in die Auswahlelf von Berlin-Brandenburg berufen.

Mit dem Aufstieg in die Oberliga 1923 beendete Simon Leiserowitsch seine aktive Karriere. Am 7. Mai 1933 schnürte er noch einmal mit über 40 Jahren seine Fußballschuhe. Diesmal in einem Freundschaftsspiel für den jüdischen Verein Bar Kochba-Hakoah Berlin. Mit zwei Toren verabschiedete sich Simon Leiserowitsch aus der deutschen Fußballgeschichte. Noch im selben Jahr floh er nach Palästina, wo er zunächst Trainer bei Makkabi Tel Aviv wurde und auch die Jugend bei Hapoel Tel Aviv betreute. Es fiel ihm jedoch schwer, sich in seiner neuen Heimat zu integrieren. Vor allem die Sprache blieb ihm fremd.

Mitglied im Berliner Sport-Club waren auch Hermann Horwitz und Werner Rulemann. Bekannt wurde Hermann Horwitz in den 1920er Jahren als Sportarzt der Fußball-Mannschaft von Hertha BSC, die ab 1926 sechsmal in Folge im Endspiel um die Deutsche Meisterschaft stand. 1938 wurde ihm die Kassenzulassung entzogen, als sogenannter ‚Krankenbehandler‘ durfte er nur noch jüdische Patienten behandeln. Am 19. April 1943 wurde Hermann Horwitz nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

Als Sohn eines jüdischen Arztes und einer christlichen Mutter überlebte Werner Rulemann den Holocaust. Mit 17 Jahren war er dem BSC beigetreten. Neben seinem sportlichen Engagement in der Hockeyabteilung übernahm er 1926 mit 31 Jahren das Amt des Vorstandsvorsitzenden im Verein, das er jedoch am 27. Februar 1933 niederlegen musste. Als sogenannter ‚Mischling I. Grades‘ wurde ihm sein Zulassung als Arzt nicht entzogen. Im Nachkriegsdeutschland übernahm Werner Rulemann wieder die Führung des BSC und weitere Ämter im Berliner und bundesdeutschen Sport.

Erich Seelig und Bully Salem Schott: zwei erfolgreiche Boxer, die den Terror überlebten

Mit dem Gewinn des Meistertitels im Mittelgewicht und wenig später im Halbschwergewicht stand Erich Seelig Anfang der 1930er Jahre vor einer großen Box-Karriere. Nur wenige Wochen nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten schloss der Verband Deutscher Faustkämpfer als einer der ersten deutschen Sportverbände am 4. April 1933 seine jüdischen Mitglieder rigoros aus und erkannte den jüdischen Boxern ihre Meistertitel ab. Wenige Tage zuvor hatten Schlägertrupps der SA Werner Seelig bereits unter Todesdrohungen gezwungen, auf die Titelverteidigung im Mittelgewicht zu verzichten.

In dieser Situation floh er über Paris und Havanna in die USA, wo er seine Karriere bis 1940 erfolgreich fortsetzte. Sein Ausschluss aus dem Verband und die Aberkennung seiner Titel wurde noch 1956 in dem in Deutschland veröffentlichen Welt-Sport-Lexikon so kommentiert: „Erich Seelig gab den Titel im März 1933 wegen Gewichtszunahme kampflos ab“.

Im Gegensatz zu Erich Seelig gelang es Bully Salem Schott nicht, rechtzeitig vor dem nationalsozialistischen Terror zu fliehen. Als 16-Jähriger war er Mitglied in der Boxabteilung des jüdischen Sportclubs Makkabi geworden. Höhepunkt seiner sportlichen Karriere war der Gewinn der brandenburgischen Meisterschaft im Bantamgewicht.

Den Spitznamen ‚Bully‘ verdankte er seiner Statur: 163 Zentimeter groß, untersetzt und kräftig. Später übernahm er den Spitznamen ohne behördliches Genehmigungsverfahren auch in amtlichen Schriftstücken als Zweitname. Im September 1939 wurde er in das KZ Sachsenhausen, später nach Auschwitz deportiert, von wo ihm im August 1944 die Flucht gelang. Mit Hilfe ehemaliger Boxfreunde überlebte er im Berliner Untergrund. 1950 emigrierte er nach Australien.

„Exklusionsmechanismen von Minderheiten erkennen“ – Adornos Worte sind aktueller denn je

Bereits in der Zeit des Nationalsozialismus wurde die Erinnerung an diese erfolgreichen jüdischen Sportlerinnen und Sportler systematisch aus dem kollektiven deutschen Sportgedächtnis getilgt. Und das ‚Vergessen’ wurde noch bis weit in die 1980er Jahre im bundesrepublikanischen Sport gepflegt. In seiner bekannten Rundfunkrede „Erziehung nach Auschwitz“ am 18. April 1966 forderte Theodor Adorno, die Ursachen für den Zivilisationsbruch zu untersuchen, die Exklusionsmechanismen von Minderheiten zu erkennen und für die heutige und zukünftige Gesellschaft aufzuzeigen. Diese Forderung von Theodor Adorno ist heute aktueller denn je.

(Autor: Prof. Lorenz Peiffer)

Alfred und Gustav Felix Flatow standen 2015 im Rahmen der Berliner Ausstellung "Jüdische Stars im Deutschen Sport" als lebensgroße Abbildung vor der Kulisse des Reichstages. Foto: picture-alliance